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Der Tagesspiegel, 05.04.2001

© Der Tagesspiegel

Wir Inder vom Bahnhof Zoo

Von Rüdiger Schaper

Zurückbleiben! Das ist der Schlachtruf, der kategorische Imperativ der Berliner Verkehrsbetriebe. Wer in Berlin ankommt, bekommt erst mal rüde Bescheid gestoßen. Seit 15 Jahren gehört die Parole zum Repertoire des GRIPS-Theaters. „Zurückbleiben! / Es war immer so“, das Lied der ewigen Verlierer auf der „Linie 1“. Seit anderthalb Jahrzehnten rattert dieser berühmte anachronistische Zug um den Globus. Doch plötzlich sollte es für die GRIPS-Leute selbst heißen: Zurückbleiben!

Dies ist die Geschichte von Max Mueller, Max und Milli. Und Mohan. Dr. Mohan Agashe schreibt einen Brief. Dr. Agashe hat viele Berufe, nichts Ungewöhnliches in Indien: Leiter des Film and Television Institute of India in Poona, Psychiater und - Schauspieler. In den Revue-Melodramen Bollywoods (die Filmindustrie von Bombay hat einen größeren Ausstoß als Hollywood) mimt Mohan Agashe den flamboyanten Bösewicht, der schöne Frauen in augenrollenden Veitstänzen verschleppt. Mohan Agashe ist in Indien ein Filmstar. Doch diesmal ist der Schurke vom Dienst für einen guten Zweck wütend geworden. Das Goethe-Institut veranstaltet ein umfangreiches, prestigeträchtiges „German Festival in India“, und das GRIPS-Theater ist nicht dabei - vergessen worden? Mohan Agashe schickt im Namen von zweihundert indischen Theaterleuten einen Brandbrief an die Münchner Goethe-Zentrale: „Wir sind extrem unglücklich über den Ausschluss des GRIPS-Theaters und hoffen auf eine Revision des Festivalprogramms.“

Verkehrte Welt: Wann schreit ein Gastland nach einem deutschen Kulturexport! Die indische Intervention hatte Erfolg. Und das bunt zusammen gewürfelte „German Festival“, mit dem Berliner Ensemble (und dem „Aufhaltsamem Aufstieg des Arturo Ui“), der Bremer Shakespeare Company, den Tänzerinnen Susanne Linke und Reinhild Hoffmann, Rockbands, Klassik-Orchestern und einem Zauberkünstler, erlebte diesen März einen Höhepunkt, der ursprünglich gar nicht vorgesehen war.

Indien besitzt - neben Deutschland - die lebendigste, vielfältigste und längste GRIPS-Tradition der Welt. Seit Mohan Agashe, der auch als Theaterregisseur gearbeitet hat, Mitte der achtziger Jahre die Idee eines zeitgenössischen Kinder- und Jugendtheaters von einem Berlin-Stipendium mitbrachte, gab es in Poona (indisch Pune), Delhi, Bombay, Bangalore und Kalkutta über 20 Inszenierungen von GRIPS-Texten, in vier indischen Sprachen. Die uns wohl bekannten Stücke heißen dort „Nako Re Baba“ (Mannomann!), „Amhi Gharache Raje“ (Spaghetti mit Ketchup), „Chuck-Chuck-Bhayya-Talamtal“ (Stokkerlokk und Millipilli) oder „Pahila Paan“ (Dicke Luft). In Kalkutta lief „Chord Line“ - die bengalische „Linie 1“. Im Mittelpunkt stand ein Flüchtlingsmädchen aus Bangladesch.

Die indischen Filialen des Goethe-Instituts firmieren als „Max Mueller Bhavan“, nach dem deutschen Indologen, der im 19. Jahrhundert lebte und dessen Name in Indien eine größere Bedeutung hat als Goethe. Volker Ludwig reiste häufig zu Workshops nach Indien. GRIPS-Schlagzeuger George Krantz und „Linie 1“-Regisseur Wolfgang Kolneder haben an indischen GRIPS-Produktionen mitgewirkt. Die Max-Mueller-Häuser sind zur zweiten Heimat von „Max und Milli“ und all den anderen GRIPS-Gören geworden. Doch zum ersten Mal war das GRIPS-Theater dort leibhaftig zu sehen - in Bombay und Poona.

Im Zeichen des Elefantengottes

„Manchmal schaffen Legenden Wirklichkeit und werden nützlicher als die Tatsachen.“ - Ein Satz aus Salman Rushdies Roman „Mitternachtskinder“, der in Bombay (heute: Mumbai) spielt. Das gilt auch für das GRIPS-Theater. Das indische Publikum kannte die GRIPS-Welt aus Übersetzungen und Adaptionen, aber nicht das legendäre Original. Und war überwältigt. Die englisch übertitelte, exotische Geschichte von den Passagieren der „Linie 1“ wurde mit stehenden Ovationen bejubelt. Schon Pune zählt vier Millionen Einwohner, Mumbai womöglich 18 Millionen. Dagegen sind die wilden Berliner U-Bahn-Stories fast ein Landidyll.

Volker Ludwig ist in Indien eine legendäre Erscheinung, im eigentlichen Wortsinn ein Guru - ein Lehrer. Volker Ludwig hat einen Lieblingsgott: Ganesha, halb Mensch, halb Elefant. Ganesha begegnet man in diesem Teil des riesigen Landes auf Schritt und Tritt. Es ist die Hindu-Gottheit des „guten Gelingens“. Der Gott, der die Hindernisse aus dem Weg räumt. Besonders Hochzeitspaare und Theaterleute verehren das grazile Rüsseltier. Sucht man nach Gründen, weshalb sich die profane, pragmatische GRIPS-Alltagsästhetik so harmonisch mit indischer Philosophie und Religiosität verträgt, stößt man auch auf Krishna - Krishna als Kind. Ein stets zu Streichen aufgelegter, ungezogener Junge, Stolz und Plage seiner Eltern Shiva und Pravati.

Berliner Kindertheater in Indien: Ilija Trojanow, ein deutsch-bulgarischer Schriftsteller, der seit drei Jahren in Mumbai lebt, glaubt, dass das GRIPS-Theater dem Bedürfnis der Inder nach dem guten Ausgang einer Geschichte entgegenkommt: „Die Menschen hier wollen das Theater und das Kino mit einem glücklichen Gefühl verlassen.“

Coming to grips with India - coming to India with grips. Die Inder spielen mit dem Wort GRIPS. „Coming to grips“ bedeutet so viel wie zupacken, einer Tatsache ins Auge schauen. Volker Ludwigs Theater greift auf die Realität von Kindern und Minderheiten zu, es ist unverstellt emotional und pädagogisch zugleich. GRIPS hat im Englischen auch noch eine zweite Bedeutung: Koffer. Gepäck. GRIPS-Stücke sind erfahrene, flexible Weltreisende, echte global players.

Mit Fuchsschwanz und Kneifzange

Elf Schauspieler spielen an die 80 Rollen - dennoch ist „Linie 1“ auch für GRIPS-Verhältnisse ein aufwändiges Stück. Der GRIPS-Bahnhof mit Showtreppe und Brücke für die „No Ticket“-Band wurde in Mumbai nachgebaut. Bühnenbildner Mathias Fischer-Dieskau arbeitete in den Slums, in Kleinstwerkstätten der Megalopolis. Die Handwerker sägten die Holzkonstruktion mit Fuchsschwänzen aus. Man mietete ein Theater, nur um die Teile probeweise zusammenzunageln und wieder auseinanderzunehmen. Mit Kneifzange und Hammer. Akku-Schrauber sind dort so unbekannt wie bei uns Computer-Know-how.

„Max und Milli“ ist in Indien das populärste GRIPS-Stück. Das unverwüstliche Kinderzimmer-Drama um zwei Geschwister, eine alleinerziehende Mutter und einen Straßenjungen, der das antiautoritäre Idyll durcheinander bringt, heißt auf Hindi „Rani Aur Pintu“, auf Bengali „Care Kori Naa“ und auf Marathi, das vorwiegend in Mumbai und Pune gesprochen wird, „Chhan Chhote, Waite Mothe“. Die GRIPS-Akteure spielten „Max und Milli“ in Pune in einer Open-Air-Vorstellung. Großes Symbol einer kleinen Kulturrevolution: Mit „Max und Milli“ ist eines Tages das Hochbett nach Indien gelangt - und mit ihm eine Kunst, die Konflikte aufreißt, ohne zu verletzen. Und mit Lösungsanleitung.

Eine einmalige Erfolgsgeschichte. Am kommenden Samstag geht in Berlin die 1000. Vorstellung der „Linie 1“ über die Bühne. In Skandinavien, Italien, Griechenland, Spanien, Litauen, Hongkong und Kanada gab es seit der Uraufführung im April 1986 eigene „Linie 1“-Inszenierungen. Weit über hundert deutschsprachige Bühnen haben die U-Bahn-Urgeschichte nachgespielt, Tourneen führten das GRIPS nach Australien, USA, in die Sowjetunion und - 1988! - in mehrere DDR-Städte. 1987 erhielt Volker Ludwig den Mülheimer Dramatiker-Preis - und damit Anerkennung aus dem Establishment der Hochkultur. Zur Feier des ersten Tausends hat das GRIPS-Theater die „Linie 1“ aus der südkoreanischen Hauptstadt Seoul zum Gastspiel nach Berlin eingeladen. In Seoul ist die 1000. Vorstellung längst gelaufen. Die Koreaner haben das Original überholt. So streng durchchoreografiert, so hart und realistisch, so selbstbewusst und eigen und doch wieder nah an der ursprünglichen Idee spielt diese Inszenierung von Kim Min'Gi auf, dass manchem alten GRIPS-Hasen Hören und Sehen vergeht. „Seoul Linie 1“: eine hammerharte Großstadt-Story, die über die Grenzen hinausgeht, die das GRIPS-Theater sich selbst setzt.

In Berlin ist „Linie 1“ ein alter Hut. Nein: ein Klassiker. Beim GRIPS ist Schlesisches Tor noch immer Endstation, auch wenn die U-Bahn längst wieder in den Osten fährt, über die Spree zur Warschauer Straße. Der Bahnhof Zoo: damals ein Dreckloch, heute ein blitzblankes Reise- und Shopping-Center. Die meisten braunen „Wilmerdorfer Witwen“ dürften inzwischen ausgestorben sein. Christoph Schlingensief hat mit seiner Talkshow „U 3000“ den unterirdischen Wahnsinn neu defininiert. Muss man das Stück nicht von Grund auf umschreiben, renovieren? Diskussionen gab es im GRIPS immer wieder, wenn junge Schauspieler vor allem aus dem Osten dazukamen. Aber die Story - Mädchen aus der Kleinstadt kommt nach Berlin - trotzt den Zeitläuften. Manch ein Birger-Heymann-Song rührt immer noch zu Tränen. „Linie 1“, Berliner Sediment und Sentiment. Ein Musical, das wie „A Chorus Line“ einen amerikanisch-unverwüstlichen Überlebensoptimismus versprüht.

„Linie 1“. In Pune. Bis heute das Hauptquartier der Bhagwan-Jünger und ihrer Pop-Religion. Der Osho, der Erleuchtete, wie Baghwan sich zuletzt nannte, starb 1990. Aber seine Esoterik-Industrie blüht. Um den Ashram - in der besten Gegend der Stadt, früher bewohnt von den britischen Kolonialherren - haben Osho-Manager ein riesiges Feriengelände errichtet; Club-Med, unter verschärften Bedingungen. Wer hier meditieren will, muss einen Aids-Test vorlegen. Man kann das an Ort und Stelle erledigen, der Test kostet nur zehn Minuten und ein paar Mark Gebühr. Gebräunte Bleichgesichter in dunkelroten Roben prägen das Straßenbild um den Ashram. Man blickt in Gesichter, die geprägt sind von der Anstrengung, entspannt und von innen erleuchet dreinzublicken.

Pune und die „Linie 1“: eine linke Geschichte. Der bärtige Aufpasser, der vor dem Ashram die Mitgliedspässe kontrolliert, könnte, von weitem betrachtet, auch Volker Ludwig sein. Hier treffen sich zwei Enden der gespaltenen Geschichte der 68er-Generation. Viele wurden politisch. Viele brachen, um jeden Preis, nach innen auf, nach Indien. Eröffneten in Berlin Restaurants und die berühmte Sannyasin-Diskothek „Far out“. Volker Ludwig und seine Freunde gründeten Ende der sechziger Jahre das GRIPS-Theater. Ein politisches Theater für Kinder, für Lehrer, für Eltern, systemverändernd allemal. Es gibt auch in der „Linie 1“ Momente der Erweckung - wenn die gesamte Besatzung eines U-Bahn-Wagens, wildfremde Menschen, sich plötzlich in den Armen liegt, nachdem man die BVG-Kontrolleure verjagt hat, und ein missionarisches Lied anstimmt: „Hab wieder Mut zum Träumen ... “

Das Max Mueller Bhavan von Pune liegt im selben Viertel wie der Ashram. Kommt einem eine blonde Dame in roter Robe entgegen, muss es keine Osho-Braut sein. Es kann es sich auch um die Leiterin des örtlichen Goethe-Instituts handeln. Dort führt eine indische Theatergruppe für die deutschen Gäste ein Stück in GRIPS-Manier auf: „Wir wollen weiterspielen“. Auf dem Rasen, unter Palmen, spielen sie die Geschichte von Schulkindern, die in den Einfluss blutiger Konflikte geraten. Ein moslemischer Schüler rettet sich in das Haus einer Hindu-Familie. Die Eltern, Angehörige verschiedener Religionen, lernen sich über die Kinder zu verständigen. Die Szenerie wechselt zwischen dem Hindu- und dem Moslem-Haus. Am Ende singen die Kinder ein Lied, das von der Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben erzählt - während des Gastspiels kam es in Pune zu Straßenschlachten, die im Zusammenhang mit der barbarischen Zerstörung der Buddha-Statuen in Afghanistan standen.

„Wir wollen weiterspielen“: Stücke nach der GRIPS-Methode, gibt es in Indien inzwischen in vielen Städten. GRIPS ist zum Genre geworden - für ein zeitgenössisches Theater, das sich nicht um Realitäten drückt. Volker Ludwigs Ideen, sein Handwerk, seine Dramaturgie, haben sich selbständig weiterentwickelt. Indische Autoren, Regisseure, Schauspieler arbeiten nach der GRIPS-Methode. GRIPS baut in Indien auf eine andere deutsche Theaterschule auf und löste sie in gewisser Weise ab: Brechts episches Theater.

Zurückgeblieben? Das gilt für uns. In Europa muss man immerzu Epochen überwinden, nach dem alten marxistischen Stafettenmodell, und nennt es dann Fortschritt. In Indien existieren Zeitalter augenfällig nebeneinander. Auf der Autobahn, wo Frauen den Baustellen-Schutt mit bloßen Händen forttragen und am Straßenrand, vor einer halb verfallenen Baracke ein windschiefes Schild mit der Aufschrift „Internet-Café“. Auf den Straßen von Pune, im ätzenden Smog, im hypnotisierenden Massenwettrennen der dreirädrigen Motor-Rikscha-Taxis. In der Basar- und Warenwelt von Mumbai, wo es noch mehr Läden als Menschen gibt: Da darf man sich so naiv und neu geboren fühlen wie das Mädchen von der „Linie 1“, das eines Morgens am Bahnhof Zoo aussteigt und die Welt anstaunt.





Ein Zug geht um die Welt. Das GRIPS-Theater spielt zum 1000. Mal „Linie 1“ und feiert Jubiläum - in Bombay, Poona und Berlin.

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